APOTHEOSE DER STADT
oder das Blättern in einem alten Album
Die letzte Seite der Veduten Rovinjs wird umgeblättert.
Und damit verfliegt im Nu der ungewöhnliche Zauber,mit dem uns die zum Greifen nahe Vergangenheit berührte. Bis vor kurzem war noch alles hier: die alte Stadt, vom Zahn der modernen Zeit noch verschont, die alte und edle Architektur voll der Spuren des Lebens; Schicksale der Menschen, ernste Gesichter der Kinder, die ins Objektiv der Kamera blicken; Valdibora und der Hafen mit ihren Fischern und vielen Batanen und Segelschiffen, und ab und zu ein mächtiger Kreuzer in den Gewässern Rovinjs; die Tabakfabrik und ihre lebenslustigen “Tabachinen”, die Likör-, Teigwaren- und Fischfabriken, Werften, zufällige Passanten und Plätze voller Menschen und natürlich Gasthäuser und die ersten Hotels, aber auch die vertrauten, stillen Straßen und Piazetten mit höflichen Herren und vornehmen Damen, die aus den lauten europäischen Metropolen nach Rovinj kamen, um die zauberhafte Atmosphäre und die Sonne des Mediterrans in vollen Zügen zu genießen.
Was flüstert uns die Zeit zu, die in diesem ungewöhnlichen Album, überreich an aufregenden Bildern der Vergangenheit, festgehalten wurde - diesen Bildern, mit Emotionen getränkt, die rührende und sentimentale Erinnerungen erwecken?
Vielleicht nur das, dass die Vergänglichkeit nicht so furchtbar ist, sind die Erinnerungen so schön.
Ende des 19. Jh.s wurde auch Rovinj, das malerische istrische Städtchen von ausserordentlicher Schönheit und unwiderstehlichem Charme von der Mode des Postkartendrucks erfasst. Doch das war viel mehr als nur eine Mode, eigentlich die Notwendigkeit einer immer stärkeren und intensiveren, fast unaufhaltsamen Kommunikation, die von der Jahrhundertwende bis zum Anfang des Ersten Weltkrieges fast globale Ausmasse erreicht. Der Jugendstil - als letztendlicher Ausdruck einer Ästhetik der Entspannung und Verwohntheit des ruhigen und verschlafenen Europa - bot sich als Modell des künstlerischen Konzepts der ersten Ansichtskarten an, die nach allen Seiten abgeschickt wurden und von allen Seiten ankamen und mit ihren reichen Ornamenten, einem Feuerwerk von Farben und hübschen Ansichten von Städten, kleineren Ortschaften, verschiedenen Hotels und Kurorten, Sommerpalästen und sogar ganz kleinen Orten wetteiferten.
In diesem ästhetischen aber auch touristischen und werbenden Reigen war allen alles wichtig, so dass Ansichtskarten nicht nur in den Orten, die sie präsentierten gedruckt und verlegt wurden, sondern in ganz anderen Staaten, sogar auf völlig entgegengesetzten Seiten Europas oder der Welt. Die Affirmation der Kunst der Fotografie verlieh dieser kreativen Erregung eine besondere Dimension, so dass alle möglichen Kombinationen von Zeichnung und Fotografie, auqarellierter Fotografie, Lithografie, Ansichten in Kupferdrucktechnik u.a. entstanden. Doch die Phantasie der europäischen Verleger hat es nicht nur dabei belassen, sondern es wurden auch Ansichtskarten mit wunderschönen Motiven in Form eines Wachssiegels, mit geprägten mehrschichtigen Reliefs und mit seidenen oder ahnlichen Applikationen sowie feinem Goldstaub oder sogar mit einmaligen Inkrustationen in Papier herausgegeben.
Die ältesten Ansichtskarten (sog. ”lange Adressen“) waren besonders konzipiert und betonten eigentlich deutlich das, was den Absendern, Empfängern und Verlegern des damaligen Europa wichtig war: auf der Rückseite war nur Platz für die in kaligraphisch tadelloser Handschrift geschriebene Adresse des geschätzten Empfängers und dieses war sogar links vorgedruckt. Auf der Vorderseite war gewöhnlich unter einer prachtvollen Vedute ein wenig Platz für Gruss, Datum und die Unterschrift des Absenders gelassen, wodurch man nach Art vornehmer Korrespondenzmanieren betonen wollte, in welch schönem Ort die Herrschaften sich gerade befanden und vorzüglich amüsierten.
Die prächtigen ersten Ansichtskarten, die in kleinen Auflagen und sehr teuren Techniken verlegt wurden, verschwinden mit dem Ersten Weltkrieg fast völlig und erreichen nie mehr das frühere Niveau, obwohl die Zwischenkriegszeit auch manch Schönes auf diesem Gebiet des Kunsthandwerks aufwies.
Die Ansichtskarten von Rovinj sind eng mit der allgemeinen Entwicklung dieser Stadt in der zweiten Halfte des 19. Jh.s verbunden. Rovinj war ein wichtiges wirtschaftliches, politisches und kulturelles Zentrum, und sein intensives Gesellschaftleben konnte sich mit dem viel grösserer Städte messen. All dieses und natürlich die Entwicklung eines Elite-Tourismus begünstigte das Erscheinen der ersten Ansichtskarten von Rovinj und seiner Umgebung, die bis zum Anfang des Zweiten Weltkriegs in rascher Folge und unzähligen Varianten gedruckt werden.
Verglichen mit den damaligen mondänen Orten des Küstenlandes - Dubrovnik, Opatija und Pula - wurde Rovinj auf einer weit geringeren Zahl von Ansichtskarten dargestellt. Dennoch haben verschiedene Verleger - von Rovinj bis Wien, München, Dresden und Leipzig und von Budapest und Klagenfurt bis Triest, Venedig, Mailand oder Poreč, Pula und Zagreb im Zeitraum von etwa siebzig Jahren Ansichtskarten von Rovinj und Umgebung mit fast tausend verschiedenen Motiven gedruckt, wobei sich diese Zahl durch Neuauflagen noch erhöht. Und obwohl sich Rovinj in diesem Sinne zahlenmässig nicht mit den damaligen vornehmen Ferienorten messen konnte, muss bedacht werden, dass diese Zahl immerhin imposant ist, vor allem deshalb, weil Rovinj selten in der Form langweiliger Veduten aus immer derselben Ecke präsentiert wurde. Die Fotografen und Verleger scheinen darin gewetteifert zu haben, das wirkliche Leben, das Wesen dieser Stadt von besonderer Schönheit zu verewigen, wo der modus vivendi nie eine Frage des Zufalls war, sondern eine Frage der Wahl seiner immer engagierten Einwohner. Das Meer, Batanen, Fischer, enge Kontraden voller Leben und Piazetten mit spielenden Kindern, gedankenverlorene Passanten, vornehme Herren und Prominenz, Fabriken mit hohen Schornsteinen in vollem Betrieb, das Beladen und Entladen von Handelsschiffen, Manöver mächtiger Kreuzer, die unberührte Ruhe der nahen Inseln und die pastorale Umgebung und wieder Batanen, Schoner, Schiffe, Segel, Segel … - all das bildet einen Reigen wunderschöner Ansichtskarten, deren sich nur wenige Städte rühmen können. Die alten Heimatfotografen, aber auch diejenigen, die ihre grossen hölzernen camere obscure nach Rovinj schleppten, um durch ihr Objektiv das ungezähmte ursprüngliche Leben bewundern zu können, haben Rovinj besungen und dieser Stadt die Liebe zurückgegeben, mit der sie so reichlich beschenkt wurden. Doch wir brauchen uns nicht der grossen Worte zu schämen, denn sie sind nicht erzwungen. Von all dem zeugen einmalige Fotos, wunderbare Augenblicke, die auf diesen einmaligen Bildern aus der Vergangenheit vor dem Vergessen gerettet wurden.
Das Verlegen der Ansichtskarten von Rovinj konnte Ende des 19. und Anfang des 20. Jh.s - rein kommerziell gesehen - kein besonders einträgliches Geschäft sein. Die Auflagen waren niedrig und die Drucktechnik ausserordentlich kostspielig. Es war vor allem eine Frage des Bürger- und Kulturprestiges. Eine Stadt mit so reicher Vergangenheit und spezifischer Tradition, aber auch eine wirtschaftlich und politisch lebendige Stadt, musste ihr Image pflegen, und dazu gehörten natürlich die erst kürzlich erfundenen schönen, mit prachtvollen Blumen und Phantasieornamenten geschmückten kleinen Bilder. Wenn sich bekannte Verleger wie Mioni aus Mali Loπinj oder Weiss & Dreikurs aus Wien die Mühe gemacht haben, Ansichtskarten von Bale oder Kanfanar zu drucken - was war das dann für die ersten Ansichtskartenverleger Benussi und Daveggia aus Rovinj selbst! Sie haben nicht nur nicht dabei gespart, sondern alles getan, damit sie in Wien und Pest, aber auch überall in Europa und der Welt mit Respekt angenommen und mit dem gleichen, wenn nicht sogar grösserem Interesse in die ersten Sammlungen aufgenommen wurden. Und darauf legte man Wert. Ob Damen damals die einzigen Sammler waren, ist heute schwer zu sagen, doch eine der ersten Sammlungen mit Ansichtskarten von Rovinj besaß gerade eine Dame, die edle Aurelia de Calò, die sie mit ihrem eigenen Stempel kennzeichnete.
Die Ansichtskarten aus Rovinj, die in der Zwischenkriegszeit verlegt wurden, entbehren der bürgerlichen Ästhetik des Jugendstils. Die turbulenten Zeiten mit ihren Veränderungen brachten eine ganz andere, mehr pragmatische Einstellung zu den Ansichtskarten mit sich, aber was niemand verändern konnte - nicht einmal das neue ästhetische und politische Design - war wieder einmal das Leben der Stadt, ihr ständiges Brodeln und Reflektieren. Wieder gibt es hier Feste, Männer, Frauen, Kinder, ab und zu einen Karabiniere, anlegende Schiffe, ärmliche Kontraden, die Tabakfabrik und andere Wirtschafstobjekte, und wieder einmal den wunderbaren Hafen mit unzähligen Booten und Segeln, mit Fischern, die um ihre Netze und den morgigen Fang besorgt sind. Durch die neuen Ansichtskarten wurde die alte Tradition nicht jäh unterbrochen. Im Gegenteil erscheinen auf vielen neuen Ansichtskarten Aufnahmen, die schon einige Jahrzehnte alt sind. Den damaligen Verlegern konnte vielleicht Nostalgie nach der k.u.k Zeit und Beschwörung der Vergangenheit vorgeworfen werden, aber den Einwohnern Rovinjs scheint alles wichtig gewesen zu sein, vor allem das, was ein unzerstörbarer und unleugbarer Teil ihrer Kultur und Geschichte ist und bleibt. Und gerade dank diesem Gefühl für Dauerhaftigkeit, das sich auf den alten Ansichtskarten manifestiert, verfügen wir heute über eine einmalige Fotodokumentation der Stadt, ihre komplexe historische Röntgenaufnahme, nicht nur des architektonischen oder urbanen Bereichs, sondern auch des wirtschaftlichen, sozialen, kulturologischen und natürlich des ethnographischen.
Was mit diesen Ansichtskarten im Laufe der mehr als hundert Jahre geschehen ist, können wir nur vermuten. Wohin sie geschickt wurden und wer sie seit der Zeit der edlen de Calò besaß, auf welch alten Dachböden sie in Vergessenheit geraten und dann wieder gefunden wurden, in welche Sammlerhand sie gelangt sind und auf welchen Antiquitätenmessen sie immer wertvoller wurden - all dies wird weiterhin ein großes Geheimnis bleiben. Nicht nur, weil es schwer zu entschlüsseln ist, sondern auch weil diese Antiquitäten leider oder zum Glück noch immer- im Unterschied zu anderen - so wenig geschätzt werden, dass es so gut wie unmöglich ist, ihre Herkunft zu erfahren.
Dennoch muss gesagt werden, dass fast alle Karten aus Rovinj, besonders die aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg echte Unikate sind und nur einige kommen mehrmals in den Sammlungen, die wir für diese Publikation benutzt haben, vor. Das gilt wahrscheinlich auch für die Ansichtskarten anderer kleiner Orte in der Welt, obwohl die Sammler - da sie reine Amateure sind - sich dessen nicht bewusst sind. Wenn es um die wichtigsten Ansichtskartensammlungen von Rovinj und Umgebung geht (Stener, Cherin, Radossi, Pauletich, Erdeši, Ursič, Heimatmuseum Rovinj), sieht man, dass sie zweifellos als Ausdruck eines hohen Sammlerbewusstseins entstanden sind, dem es aber weder an nötiger Begeisterung noch an leichter Pathetik und einer gewissen Dosis Nostalgie mangelt, also an nichts, was das Sammeln alter Ansichtskarten so angenehm und so nützlich macht.
Das Buch “Rovinj auf alten Ansichtskarten” ist Ausdruck dieses ererbten Selbstbewusstseins. Indem wir darin blättern, erfahren wir die uneingeschränkte Lebensfreude der Stadt und werden Zeuge einer bedingungslosen Liebe zu ihr.
Übersetzung aus dem Kroatischen: Nada Ivanetić, Ute Karlavaris-Bremer